Andacht August / September / Oktober 2022

Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
– Antoine de Saint-Exupéry

Pastorin Bettina Gfell

Letzte Woche hat mich meine Tante angerufen und sich für die Karte bedankt, die ich ihr zum Geburtstag geschrieben habe. Sie hat sich entschuldigt, dass sie sich erst jetzt bei mir meldet. Meine Tante ist über 90 und kann fast nichts mehr sehen. Sie hat also geduldig gewartet, bis jemand Zeit hatte, ihr den Brief vorzulesen. Dann hat sie nochmal gewartet, bis jemand meine Telefonnummer rausgekriegt hat, weil sie die nicht mehr finden konnte. Jetzt ist die Nummer im Telefon eingespeichert und sie kann mich anrufen. Sie hat mir ein bisschen von ihrem Alltag erzählt, der sich sehr verändert hat, seit sie kaum mehr was sieht. Sie hört viel – Radio und Hörbücher. Sie erkennt die Schritte der Menschen, die bei ihr wohnen. Sie macht noch manches, indem sie tastet, was sie dazu braucht. Manche kennen diese Erfahrungen, weil auch ihre Augen schlechter geworden sind. Wir anderen können uns das kaum vorstellen.

Wer mit blinden Menschen in Kontakt kommt, erlebt manchmal Erstaunliches. Eine Herzenswärme im Umgang miteinander. Ein ausgeprägtes Gespür für die Gegenwart anderer und die Atmosphäre um sie herum. Eine gute Wahrnehmung für leise Töne und Zeichen, die den Weg weisen. Eine wache Auffassungsgabe für den tieferen Sinn von Worten und Geschichten. Am Ende fragt man sich etwas beschämt, wer eigentlich blind und wer sehend ist. Viele Menschen, die ihr Augenlicht verloren haben, haben das „Sehen“ mit den Ohren, mit den Händen und mit dem Herzen gelernt. Und sie nehmen damit manches unmittelbarer und ehrlicher wahr. Eine Seite der Wirklichkeit, die mit einem schnellen Augen-Blick nicht zu erfassen ist. Auf der anderen Seite wissen blinde Menschen darum, dass es Dinge gibt, die sie nicht wahrnehmen können. Das trifft auch auf Sehende zu. Aber bei uns geht es oft verloren – dieses Wissen: was ich sehe, ist nicht alles. Meine Wahrnehmung ist begrenzt und die Wirklichkeit entzieht sich mir immer wieder. Blinde sehen also manchmal besser. Und Sehende übersehen so manches – sind oft auf einem Auge blind. Sich dessen bewusst zu werden, ist vielleicht der erste Schritt, immer besser mit dem Herzen sehen zu lernen – andere nicht nach dem äußeren Schein zu be- oder gar zu verurteilen. Diesen Herzens-Blick wünsche ich uns. Auf uns, auf unsere Mitmenschen und auf Gott, der unsere Raster und fertigen Meinungen sprengt. Und der uns neu begegnen will – vielleicht ja gerade jetzt in diesem Sommer.

Ganz herzliche Grüße!
Ihre und Eure Pastorin Bettina Gfell

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